
Im alten China wurden Ehen traditioneller Weise von den Eltern arrangiert. Doch nicht immer waren die Neuvermählten mit der Auswahl zufrieden. Auch Xu Yun war von seiner Gemahlin enttäuscht, denn dieser fehlte es an Schönheit …
Nach dem Untergang der Han-Dynastie war China in drei Königreiche geteilt -Wei, Shu und Wu.In dieser Zeit (220-280 n.Chr.) lebte Xu Yun (許允). Seine Aufgabe als Beamter war es, die militärische Palastwache im Königreich Wei (魏國) zu koordinieren. Dies war eine verantwortungsvolle Position, die zudem einen hohen gesellschaftlichen Rang mit sich brachte.
Xu Yun’s zukünftige Frau entstammte der ehrbaren Familie Ruan (阮). Ihr Vater, Xu, war ein hoher Beamter und diente als Hauptmann. Die Tochter war Sekretärin der Garde am Kaiserhof. Die Menschen schätzten ihre Intelligenz und ihre Talente. Darüber hinaus war Xu Yun ein Freund ihres älteren Bruders. Somit überlegte Xu Yun nicht lange und stimmte zu, als ihm angeboten wurde, die Tochter der Familie Ruan zu heiraten.
Als der frisch Vermählte zum ersten Mal das Äußere seiner Braut sah, welches schlicht und hässlich war, zweifelte dieser an seiner Entscheidung. Er vermied es nach der Hochzeitszeremonie das Brautgemach zu betreten. Einige Tage später hörte Xu Yun´s Frau von ihrem Zimmer aus, dass ihr Gatte Besuch empfing. So schickte sie ein Dienstmädchen aus, um zu erfahren wer zu Besuch kam.
Als sie erfuhr, dass Huan Fan (桓範) der Besucher war, wusste die Braut, dass sich nun alles zum Guten wenden würde. Er war ein guter Freund der Familie. Zur Magd sagte sie: „Wir brauchen uns nicht zu sorgen. Huan Fan kann meinen Gemahl sicher so beraten, dass er die Kammer betritt.“
Huan Fan gelang es, wie erwartet, Xu Yun mit folgenden Worten zu überreden: „Die Familie Ruan muss gute Absichten gehabt haben, als sie Euch ihre hässliche Tochter zur Gemahlinübergeben hat. Geht zu ihr, lasst Euer Herz sprechen; damit ihr sie sehen und erkennen könnt.“
Die vier Tugenden der Frauen
Xu Yun befolgte Huan Fans Rat. Er betrat die Kammer, aber kaum hatte er seine Braut erblickt, wandte er sich ab und wollte aus der Kammer eilen.
Seine Frau wusste, wenn er jetzt die Kammer verließe, würde er nicht mehr zurückkehren. So beeilte sie sich, gänzlich gegen die Sitte, den Ärmel seiner Kleidung zu fassen und ließ ihn nicht gehen. Xu Yun konnte nicht anders als verärgert stehen zu bleiben.
Um seine Frau in Verlegenheit zu bringen, tadelte er sie mit böse funkelnden Augen wegen ihres Benehmens: „Frauen sollten vier Tugenden besitzen. Wie viele besitzt Ihr?“
Im traditionellen China gab es für Frauen vier Tugenden (sancong side三從四德). Die erste war der moralische Charakter, welcher die Keuschheit (婦德) und die ethische Verantwortung beinhaltete. Die zweite Tugend kennzeichnete die Fähigkeiten der Frau zur sorgfältigen Arbeit (婦功) und ihren Fleiß. Bei der dritten Tugend ging es um die weibliche Art zu Reden (婦言) und sich zu benehmen. Die vierte Tugend jedoch, welche Xu Yun andeutete, war die des weiblichen Aussehens (婦容).
Xu Yun stellte die Frage, obwohl er wusste, dass hierbei nicht allein das oberflächliche Aussehen, sprich die körperliche Schönheit, gemeint war. Doch er wollte seine unattraktive Frau mit diesen Worten verhöhnen.
Die Tugenden der Gelehrten
Die Gemahlin von Xu Yun war weise und ließ sich nicht auf die Stichelei ein. Stattdessen antwortete sie mit Klugheit: „Was mir ermangelt, ist nur die Schönheit – ein Gelehrter sollte hundert Tugenden haben. Wie viele davon besitzt Ihr, mein Herr Gemahl?“ Xu Yun richtete sich mit geschwollener Brust auf und erwiderte stolz: „Alle.“
Seine Frau lächelte leicht und antwortete: „Der moralische Charakter ist unter den hundert Tugenden die wichtigste, mein Herr Gemahl. Ihr aber wünscht ein schönes Aussehen und missachtet den guten Charakter. Wie könnt Ihr sagen, dass Ihr alle Tugenden habt?“
Xu Yun´s Gesicht erblasste vor Scham, als er die Worte seiner Gemahlin hörte. In diesem Moment erfuhr Xu Yun zum ersten Mal von der übermenschlichen Einsicht seiner Frau und versöhnte sich mit ihr. Er änderte seine Haltung und zeigte fortan den größten Respekt gegenüber seiner Frau.