Warum „Man kann alles haben“ ein Irrglaube ist

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Warum „Man kann alles haben“ ein Irrglaube ist

Oft lässt sich nicht alles zufriedenstellend unter einem Hut bekommen. (Bild: iStock)

Heutzutage kann man scheinbar alles machen, alles werden und alles haben. Ohne Einschränkungen und Kompromisse, die Möglichkeiten scheinen schier endlos zu sein. Die Wahrheit ist aber, jede Entscheidung bringt auch verschiedene Konsequenzen und Verluste mit sich.

Schon Queen haben in ihrem Hit „I want it all” davon gesungen alles haben zu wollen, und das auch noch sofort. Allerdings ist der Druck, der mit diesem Bedürfnis einhergeht, sowohl für Männer als auch Frauen sehr hoch.

Nancy Colier ist Psychotherapeutin und Buchautorin und ist in ihrem Arbeitsalltag oft mit eben dieser Problemstellung konfrontiert.

Fälle aus dem Alltag von Colier

Colier erzählt auf theepochNspirement.com von Jane, einer Mutter und Ärztin, die sich innerlich zerrissen fühlt. Einerseits strebt sie eine erfolgreiche Karriere als Ärztin an, aber gleichzeitig möchte sie viel Zeit mit ihrem Kind verbringen.

Eine andere Klientin ist auf der Suche nach einer Möglichkeit, immer erreichbar zu sein und dennoch ungestört Zeit mit ihrem Ehemann verbringen zu können.

Ein weiteres Beispiel ist Peter, der sich in der Sicherheit seiner neunjährigen Beziehung sehr wohl fühlt. Gleichzeit hat er jedoch das Gefühl, eingeschränkt zu sein, weil er sich auf Partys nicht wie ein Single benehmen kann.

Als letztes Beispiel erzählt sie von MK, einem Studenten, der eifersüchtig auf die beruflichen Erfolge seiner Freunde ist. Er selbst legt mehr Wert auf soziale Kontakte und Partys.

Obwohl er dadurch bewusst seine akademischen Erfolge einschränkt, will er ebenfalls die Karriere und das damit einhergehende Selbstwertgefühl seiner Freunde, die harte Arbeit und Zeit in ihr Studium investieren.

Zufriedenheit verkleinert die Gewinnspanne

Allen Klienten ist gemeinsam, dass sie alles haben wollen – gleichzeitig und ohne Abstriche. Alles zu haben wird in der heutigen Gesellschaft damit gleichgesetzt auch nichts aufgeben zu müssen.

Diese Illusion wird einerseits von der heutigen Technologie gefördert, wo durch ein paar Klicks und ohne Aufwand viele Dinge gleichzeitig erledigt werden. Anderseits tragen auch die Medien und Werbung zu dieser Illusion bei. Die Überzeugung, dass Menschen alles erreichen können, alles haben können und sollten, ist gut für‘s Geschäft. Zufriedene Menschen, die nach nichts streben, sind hingegen schlecht für den Profit.

Werbungen wecken stets neue Bedürfnisse und volle Regale lassen kaum Wünsche übrig. (Bild: iStock)

Einschränkungen verstehen lernen

Nancy Colier nimmt immer wieder wahr, dass ihre Klienten über die Realität überrascht und enttäuscht sind.

Als sie die Dienstzeiten der Ärztin Jane mit dem Tagesablauf ihrer kleinen Tochter verglich und kaum überschneidende Freizeit fand, war diese entsetzt, fast so als ob sie diese Information zum ersten Mal hören würde.

Die andere Klientin war enttäuscht zu hören, dass es wohl nicht möglich sei, 24 Stunden am Tag für die Kinder erreichbar zu sein, während man ungestört Zeit mit dem Partner verbringen will.

Auch Peter war überrascht, als ihm gesagt wurde, dass er die Einschränkungen von neuen weiblichen Bekanntschaften wohl akzeptieren müsse, um die Vorteile einer stabilen Beziehung zu genießen.

Einen Weg zu wählen, beinhaltet auch immer den Verzicht auf die anderen Möglichkeiten. Colier spricht von der Realität des Menschseins. (Bild: iStock)

„Das Leben hat nun einmal Einschränkungen, was uns komischerweise niemand beibringt“, stellt Nancy Colier fest. Wenn man sich mit der Wahrheit auseinandersetzt und sie akzeptiert, wird man von den Illusionen befreit, von denen man getrieben wird.

Verlust und Gewinn

„Wenn wir denken, dass wir alles haben können und sollten, werden wir früher oder später wie gelähmt da stehen — gefangen zwischen den Möglichkeiten und unfähig uns für einen Weg zu entscheiden“, gibt Colier zu bedenken. „Wir sind nicht bereit, die Realität zu akzeptieren: Dass Wahl, ob es gefällt oder nicht, Verlust bedeutet. Nicht gelegentlich, sondern immer.“

Für sie gehen Verlust und Gewinn Hand in Hand. Es ist wichtig, den Verlust zu akzeptieren, der mit jeder Entscheidung einhergeht. Für alles, was man gewinnt, muss man etwas verlieren.

„Mit jeder Entscheidung öffnet sich eine Tür und eine andere schließt sich. Diese Erfahrung, dass sich das Tor schließt, muss ebenfalls in die Erfahrung mit eingeschlossen werden und mit Empathie behandelt werden“, erklärt Colier.

Ein Punkt, der Colier am Herzen liegt, ist klarzustellen, dass es nicht die persönliche Schuld der Menschen ist, nicht alles haben zu können.

Colier sagt ihren Klienten oft: „Ja, es ist wahr. Wenn Sie das eine wählen, werden Sie das andere nicht bekommen. Aber die Tatsache nicht beides haben zu können, heißt nicht, dass mit einem persönlich etwas nicht stimmt. Es heißt nur, dass man mit der Realität des Menschseins lebt.“

Zeit, Energie und Aufmerksamkeit sind begrenzt. Manche Wünsche eliminieren die Möglichkeit von anderen Wünschen aufgrund ihrer Gegensätzlichkeit.

Mutig gesteht sich diese Tatsache auch Bloggerin, Moderatorin und Autorin Christine Neder ein und schreibt öffentlich auf ihrem Blog: „Man kann nicht alles haben im Leben.“

Weil sie immer wieder von anderen Menschen hört, dass diese gerne ihr Leben hätten, musste sie darüber nachdenken, ob diese Personen auch wüssten, welche Einbußen ihr Leben mit sich bringt. Ihr Job erlaubt es ihr zwar viel zu reisen und neue Abenteuer zu erleben, jedoch heißt das auch ständig online und erreichbar sein, sowie selten Zeit für Freunde und Familie zu haben. „Sorry, ich bin nicht da“, ist ein Satz, der sie selbst schon nervt, da sie ihn oft verwenden muss, wenn sie mal privat gewünscht oder gebraucht wird. 

Die Qual der Wahl

Der Gedanke, dass der Mensch in der Lage ist, alles zu bekommen und alles zu erreichen, was er sich vorstellt, ist schlicht falsch. Dieser Gedanke ist es, was Menschen einschränkt und leiden lässt.

Im Leben müssen immer wieder harte Entscheidungen getroffen werden. Colier sagt dazu:

Zu akzeptieren, dass kein Gewinn ohne gleichzeitigem Verlust möglich ist, hilft Prioritäten zu setzen und sich klar zu werden, was man im Leben möchte. Loslassen befreit. (Bild: iStock)

„Wenn man an Entscheidungen mit einer erwachsenen und realistischen Einstellung herangeht und auch den Verlust mit einbezieht, den eine Entscheidung mit sich bringt, werden wir eine tiefere Bedeutung erleben. Außerdem sind wir dann dankbarer für das, was wir ausgewählt haben.“

Christine Neder fasst abschließend auf ihrem Blog zusammen:

„Ich liebe mein Leben. Ich habe es mir so ausgesucht und ich weiß auch, dass wenn ich irgendwann unglücklich mit diesem Lebensmodell bin, ich es jederzeit ändern kann. Was nämlich viele vergessen: Jeder hat sein Leben selbst in der Hand und kann es jederzeit ändern. Man kann nicht alles im Leben haben, doch man kann sich aussuchen, was man am liebsten haben möchte.“

Jeder hat die Möglichkeit zu wählen, was wirklich wichtig ist. Colier ist überzeugt, dass man erst durch den Verlust, den Entscheidungen mit sich bringen, ermutigt wird, sich darüber klar zu werden, wie man sein Leben wirklich leben will.

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