
Der Tag an dem die Dame der Kälte
und
die Herrin des Feuers tanzen
Fürsorglich wie liebevoll deckte Großvater Johannes seine beiden Enkelkinder Hannelore und Wolfgang mit der dicken Bettdecke zu. „Schlaft gut meine Lieben, morgen ist Wintersonnenwende, morgen beginnt der echte Winter.“
Amüsiert kicherten die Zwillinge und Hannelore sprach. „Aber Opa, Winter hat schon lange begonnen, es ist bereits fast Weihnachten.“
Auch Wolfgang meldete sich zu Wort. „Ja Opa, draußen liegt bereits seit Wochen Schnee und jede Nacht vereisen die Fensterscheiben der Autos.“
Altklug, wie ihr Opa es war, korrigierte der in die Jahre gekommene, aber noch rüstige Mann seine witzigen Enkelkinder. „Das mag schon stimmen, doch nur am kürzesten Tag und der längsten Nacht im Jahr treffen sich die Dame der Kälte und die Herrin des Feuers.“ Er machte es sich auf dem Lesesessel, der vor den Betten stand, gemütlich. „Denn am Tag der Wintersonnenwende dürfen sich diese gegengleichen Zwillinge treffen und miteinander tanzen.“
Neugierig staunten die beiden Kinder, sie liebten die Geschichten ihres Großvaters, sie waren immer etwas ganz Besonderes, schließlich waren sie in keinem Buch zu finden. „Erzähl uns mehr!“, hallten ihre Stimmen im Raum.
Herzhaft lachend tat der Alte geheimnisvoll und flüsterte. „Gut, gut,“ beschwichtigte er die aufgeregten Kinder, „ich werde euch das Märchen erzählen.“ Das Feuer im Kamin knisterte und spendete angenehme Wärme, während die Fenster mit Eisblumen übersät waren.

„Vor vielen, vielen Jahren, als es die Erde noch nicht gab, wurden die ungleichen Zwillinge geboren. Das eine Kind spie Feuer, heißer als die Sonne, und aus ihren kupferroten Haaren fielen Funken, schöner als die Sterne. Das zweite Kind atmete Eis, kälter als das Universum je sein könnte, doch alles, was sie berührte, glänzte zauberhaft wie Juwelen im Licht der Sonne. Unzählige Millionen von Jahren lebten die Zwillinge Seite an Seite, bis sich eines Tages ihre Wege trennten.“
„Warum haben sie sich getrennt?“, fragte Wolfgang etwas traurig.
Hinweisend hob der Erzähler den Zeigefinger. „Weil sie nicht für immer füreinander bestimmt waren. Dank ihrer Trennung konnte die Erde entstehen und all die vielen Lebewesen, die auf ihr wohnen. Damit sie unsere Welt unterstützen konnten, mussten sie sich so entscheiden.“ Tröstend stupste er mit seinen rauen Händen die glatte Kindernase an. „In alten Legenden heißt es, dass die beiden Geschwister für den Wechsel zwischen Tag und Nacht verantwortlich sind.“ Stumm nickend wartete Wolfgang auf die Fortsetzung der Geschichte.
„Seit Anbeginn der Zeitrechnung unseres Planeten erschienen die Zwillinge an einem ganz besonderen Tag im Jahr gemeinsam. Manche Menschen, die eine besondere Gabe inne tragen und gut hinsehen, können den bewegenden Tanz von Feuer und Eis sogar beobachten. Denn alle Jahre wieder wanderte die Dame der Kälte zwischen den weißen Stämmen der jungen Birken durch den frostigen Wald – auf der Suche nach ihrer Schwester, der Herrin des Feuers, die wild und ungestüm mit der trägen aufgehenden Sonne den Himmel in Brand setzte. Ihr strahlendes Rot färbte den bleichen Wald in ein mildes Orange und zeigte mithilfe der funkelnden Eiskristalle ihrer Schwester den Weg.
Je näher sie sich kamen, umso dichter wurde der morgendliche Nebel, bis sie sich endlich gegenüberstanden.
Voll impulsiver Freude umarmte die Herrin des Feuers ihre Schwester und erwärmte damit ihr gefrorenes Herz. Sich der Hitze widersetzend, blieb das Eis der Dame der Kälte ewig bestehen und erwiderte die Zuneigung ihrer Schwester mit ruhiger Beständigkeit.“
Hannelore schwärmte. „Opa, das ist so schön! Die beiden müssen unglaublich hübsch aussehen!“

Unwissend über das, was seine Enkelin gerade in ihren Gedanken sah, lachte er auf. „Meine junge Hannelore, ich weiß es nicht. Ich habe die beiden noch nie in meinem Leben gesehen.“
Die beiden Kinder schlossen ihre Augen und lauschten dem Knistern des Brennholzes. Halb im Schlaf stellten sie sich die Glut und das lodernde Feuer im Kamin vor, daraus entwickelten die beiden Kinder unabhängig voneinander das Aussehen der Herrin des Feuers. Im Kontrast dazu verwandelte sich die Dame der Kälte in eine elegante Frau im lichtblauen Kleid, die den Eisblumen am Fensterglas Konkurrenz mit ihrer Schönheit machte. Rund um die beiden Geschöpfe zeichnete sich der lichtdurchflutete Wald ab, durch den die beiden unschuldigen Seelen im Traum wanderten.
„Sich in den Armen liegend, dauerte es nicht lange, bis sie an diesem kürzesten Tag im Jahr zu tanzen begannen. Nur solange die Sonne den Tag erhellt, dürfen sich die Schwestern berühren. Nachts endete der Zauber, doch bis zum nächsten Morgengrauen entzündet die Herrin des Feuers den Himmel in Form von Sonnenwinden, welche wir als Polarlichter sehen. Ebenso stark hüllte die Dame der Kälte die gesamte Umwelt in Eis und Schnee.“
Selbst in den Bildern schwelgend machte der alte Mann Pause. Keines der Kinder sagte etwas. Mit der Hand am Herzen sah er auf die friedlich träumenden Gesichter hinab. „Schlaft gut, meine Lieben.“
„So hat es sich damals angefühlt“ ,flüsterte Johannes und legte neues Birkenholz ins Feuer, „das grün-violette Licht am Himmel, deine Hand in meiner. Unsere Herzen brannten wie die Sonne, doch wir froren im weiß funkelnden Zauber dieser wolkenlosen klaren Nacht im Schein des Nordlichts.“
Am Weg ins Schlafzimmer hielt Johannes vor dem Bild seiner verstorbenen Frau inne und strahlte, wie frisch verliebt. „Danke, meine liebste Elisabeth für die hübsche Geschichte. Heute, wie damals vielen Dank.“