
…inspiriert von „A Christmas Carol“ von Charles Dickens aus dem Jahr 1858
Endlich durfte Sophie ihre Mutter wieder besuchen. Es kostete sie einiges an Überredungskunst, schließlich wollte ihre jüngere Schwester lieber Abstand halten, um sich nicht gegenseitig zu gefährden. In knapp zwei Tagen war Weihnachten, das wollte sie sich nicht entgehen lassen, denn es gab viel zu tun, besonders bei ihrer Mutter, die bereits am Telefon nur müßig einwilligte. Bei ihr wollte sie einige Tage verbringen und retten, was zu retten war.
Kaum bei der Tür hereingetreten, kam ihr schon der weltsüßeste Hund entgegen, laut bellend machte die Hündin auf den Besuch aufmerksam und lief freudig hin und her. Kopfschüttelnd stand Sophies Mutter Isabella im Gang. „Puppe, hör auf zu bellen! Wir wissen schon alle, dass sie da ist.“ Gemeinsam kraulten sie die Hündin an beiden Seiten, bis diese sich wieder auf ihren Platz legte.
„Schön wieder hier zu sein,“ der vertraute Geruch, der in diesem Haus schon seit Jahrzehnten hing, brachte komische Erinnerungen hoch. „Wie möchtest du heuer Weihnachten feiern?“, wollte Sophie von ihrer Mutter wissen.
Ein wenig angesäuert über Weihnachten reden zu müssen, sah die 61 Jahre alte Frau beleidigt wie ein kleines Kind zur Seite. „Bleib mir ja fern mit diesem Irrsinn!“ Verweigernd wedelte Isabella ihre Hand. „Dieses verrückte Fest ist ruiniert, jeder will einem nur das Geld abzocken, Spenden hier, Geschenke da.“ Resignierend lehnte sie sich zurück. „Die könnten mir ein wenig spenden!“
Bevor es zu politisch oder gesellschaftskritisch wurde, duckte sich Sophie hindurch und lenkte souverän das Thema zurück. „Schon verstanden. Trotzdem kommst du nicht drum rum. Heuer werden wir uns am 25. Dezember bei dir treffen!“ Breit und kindlich grinsend untermalte sie die Unveränderbarkeit dieser Entscheidung. „Keine Sorge, ich greif‘ dir unter die Arme!“. Gleich im Anschluss begann Sophie sofort mit ihrer Aufgabe, die Räumlichkeiten in Festtagsstimmung aufzuputzen.
Grummelnd und murrend folgte Isabella ihrer Tochter auf Schritt und Tritt. Nörgelnd machte sie in jeder freien Sekunde klar, dass sie all das für unnötige Zeitverschwendung abstempelte. „In einer Woche sieht es genauso aus, der Staub ist unaufhaltsam und dank der ganzen Dekoration, die du für so wichtig hältst, kann ich spätestens im Jänner wieder alles wegräumen.“
Seit Sophie begonnen hatte, konnte sie sich das jede Minute anhören, auch noch am 24. Dezember früh am Morgen. Eine Mischung aus zurückhaltender Verzweiflung und hoffnungsvoller Zuversicht schmeichelte ihrer Stimme. „Mama bitte, du musst mich nur noch bis morgen Nachmittag ertragen. Wenn du dann immer noch willst, dass ich alles sofort entfernen werde ich das natürlich auch machen.“ Ihrer Mutter eine warme Weste anbietend, deutete sie auf den Dachbodenaufgang. „Beide deine Kinder wissen, dass du unmöglich viel Weihnachtsschmuck dort oben versteckst.“ Schelmisch grinsend provozierte sie. „Du wirst dir aussuchen, in welcher Farbe wir den Baum schmücken.“
Besiegt gab Isabella langsam nach, doch es schmeckte ihr einfach nicht. Weihnachten war so unmöglich anstrengend, seitdem sie mit ihrem Mann alleine lebte. Instinktiv ging sie zu den Kartons am Ende des Dachbodens. Gemeinsam öffneten sie jede Schachtel und standen ratlos davor. Rote, blaue, grüne, silberne, grell bunte, braune, weiße, goldene, violette, einige in rosa und auch holzgeschnitzte Kugeln offenbarten sich in ihrer vollen Pracht. „Holz,“ entschied Isabella nach reichlicher Überlegung, „und Strohschmuck, die Spitze wird ein Stern.“ Die roten Bänder, die zwischen den kleineren Boxen eingequetscht waren, zog sie vorsichtig hervor. „Ich glaube, das sollte gut gehen.“
„Na endlich!“ Erleichtert schnappte Sophie den großen, jedoch leichten Karton. Das liebliche Gesicht, welches begann Freude auszustrahlen, war ihr Lohn genug. „Ich dachte schon, du entwickelst dich zu einem noch schlimmeren Ding als den Grinch, der ich immer war.“

Schallend lachend machte Isabella einen Kaffee für sich und Sophie. „Was kann noch schlimmer sein als der Grinch, der du einmal warst?“ Kurz ernsthaft überlegend, dachte sie laut: „Gibt es dafür eigentlich eine Steigerung?“ Genießerisch nahm sie den ersten Schluck Kaffee.
Überzeugt deutete Sophie mit einem sauren Gesichtsausdruck auf ihre Mutter. „Du hattest Anzeichen, dich zu Ebenezer Scrooge zu entwickeln!“ Als würde sie einen Geist nachahmen, zog sie die Hände dicht an die Brust. „Und wir würden uns schon im dritten Teil der Geschichte befinden, wo der Geist der zukünftigen Weihnacht dir deinen eigenen Grabstein zeigt.“
Isabella war schockiert, Sophie hingegen blieb gelassen. Das irritierte die betagte Frau am meisten, manchmal war es ziemlich schwer für sie, Sophie zu verstehen oder ihr zu folgen.
„Doch wie ich sehe, waren wir nur bei Strophe eins, wo der Neffe seinen Onkel anschrie.“ Beruhigt scheuchte sie den eigentlichen Hauptteil der Geschichte aus ihren Gedanken. „Dann haben wir den Geisterkram übersprungen und sind nun kurz vor dem Ende, wo alle glücklich beisammen sitzen können und gemeinsam essen.“
Kopfschüttelnd gab Isabella einfach auf, sie konnte gegen die Frohnatur ihrer ältesten Tochter einfach nicht ankommen. „Du bist unmöglich!“ Ihr Gesicht wahrend blickte sie in die Kaffeetasse. „Danke, dass du dir trotz alledem die Mühe machst, mir zu helfen.“ Seufzend streckte sie sich. „Wenn das alles nur nicht so anstrengend wäre.“
„Kopf hoch Mama,“ motivierte sie ihre Mutter und trank den noch heißen Kaffee, „wir haben Zeit.“
Vielen Dank fürs Lesen.
Anbei noch der Originaltext, welcher diese Geschichte inspirierte:
Der Neffe entgegnet seinem Onkel in Strophe 1:
(E-Book Leseprobe Deutsch)
“Und Weihnachten ist eins von denen. Aber ich weiß gewiß, daß ich Weihnachten, wenn es gekommen ist, abgesehen von der Verehrung, die wir seinem heiligen Namen und Ursprung schuldig sind, immer als eine gute Zeit betrachtet habe, als eine liebe Zeit, als die Zeit der Vergebung und Barmherzigkeit, als die einzige Zeit, die ich in dem ganzen langen Jahreskalender kenne, wo die Menschen einträchtig ihre verschlossenen Herzen auftun und die anderen Menschen betrachtet, als wenn sie wirklich Reisegefährten nach dem Grab wären und nicht eine ganz andere Art von Geschöpfen, die einen ganz anderen Weg gehen. Und daher, Onkel, ob es mir gleich niemals ein Stück Gold oder Silber in die Tasche gebracht hat, glaube ich doch, es hat mir Gutes gethan und es wird mir Gutes thun, und ich sage: Gott segne es!“
Englische Originalstelle:
„Christmas among the rest. But I am sure I have always thought of Christmas time, when it has come round – apart from the veneration due to its sacred name and origin, if anything belonging to it can be apart from that – as a good time ; a kind, forgiving, charitable, pleasant time ; the only time I know of, in the long calendar of the year, when men and women seem by one consent to open their shut-up hearts freely, and to think of people below them as if they really were fellow-passengers to the grave, and not another race of creatures bound on other journeys. And therefore, uncle, though it has never put a scrap of gold or silver in my pocket, I believe that it hasdone me good, and will do me good ; and I say, God bless it!” (Seite 5-6)