Einen kleinen Garten am Balkon oder an einer freien Wiesenfläche anzulegen, scheint in einer Krise nicht weltbewegend zu sein. Jedoch waren es gerade diese Gärten – die sogenannten „Victory Gardens“ oder auf Deutsch „Siegesgärten“, die sowohl im Ersten als auch im Zweiten Weltkrieg schlimmere Hungersnöte verhindern konnten, die Moral und das Kriegsgeschehen beeinflussten.

In der Vergangenheit war es normale Lebensart, über eigene Gärten oder Bauernhöfe in der Umgebung mit den wichtigsten Lebensmitteln versorgt zu werden. Doch dies hat sich seit dem Beginn der industriellen Revolution 1760 verändert. Menschen zogen vermehrt in Städte, um in Fabriken zu arbeiten und begannen Lebensmittel zu kaufen, anstatt sie selbst anzubauen.
Die privaten Gartenflächen, Felder und kleinen Bauernhöfe wurden seltener, während Großbauern, Supermärkte bis hin zu großen Handelsketten florierten.
Umdenken in den Krisenzeiten
Als jedoch nach dem Ersten Weltkrieg kurz darauf der Zweite Weltkrieg vor der Tür stand, begann in den Regierungen von Großbritannien, Amerika, Deutschland und anderen Ländern ein Umdenken. Um die staatlichen Ressourcen besser nützen zu können, weniger Geld für Importe auszugeben und die Soldaten an der Front versorgen zu können, kreierten sie die Idee der „Siegesgärten“.
Die Bevölkerung wurde in groß angelegten Kampagnen dazu aufgerufen, wieder Gärten anzulegen und sich wieder vermehrt selbst zu versorgen. Weil Lebensmittel zu Kriegszeiten auch streng rationiert wurden, galt es als „patriotisch“ einen Garten anzulegen. So sollten vor allem Frauen, Minderjährige und ältere Menschen, die nicht an der der Front kämpften, ebenso ihren Beitrag leisten. Dadurch sollte die Moral und das Gefühl für Zusammenhalt gestärkt werden und jedem wurde eine wichtige Rolle zuteil, die Krise zu meistern.
Magazine und Tageszeitungen druckten Artikel, wie man Gärten pflanzte, was leicht angebaut werden könnte und wie man Lebensmittel haltbar macht auf den Titelseiten. Gleichzeitig wurde beworben, alle zur Verfügung stehenden Flächen zu nutzen – sei es am Balkon, auf Dächern in den Städten oder öffentlichen Grünflächen in Parks.
Vor allem in Amerika folgten Millionen Menschen dem Aufruf und begannen private Gärten und Gemeinschaftsgärten anzulegen. Die US-Behörde für Agrarkultur meldete 1943 während des Zweiten Weltkrieges, dass 20 Millionen solcher „Victory Gardens“ angelegt wurden und so neun bis zehn Millionen Tonnen Lebensmittel geerntet werden konnten. Dadurch wurden Engpässe und Hungersnöte während der Krise vermieden und Ressourcen konnten für das Militär und schließlich zur Beendigung des Krieges genutzt werden.
Wie wichtig der Beitrag der Gärten war, zeigte sich im Jahr 1946. Nachdem im Jahr zuvor der Krieg geendet hatte, nutzten viele Amerikaner im Frühling darauf ihren Garten nicht mehr. Stattdessen verließen sie sich darauf, ihr Essen wieder im Geschäft kaufen zu können. Da aber der Staat die Versorgung und Ressourcenverteilung nicht schnell genug wieder auf Vorkriegsniveau bringen konnte, kam es 1946 in Amerika erstmals zu größeren Versorgungsengpässen, obwohl der Krieg vorbei war.

Die aktuelle Situation
Im Gegensatz zu heute hatten zu den Zeiten der Weltkriege in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch viele Menschen von sich aus auch ohne Aufruf des Staates Gärten und Lebensmittelvorräte für den Winter angelegt.
Die Modernisierung und Globalisierung hat folgende Situation verschärft: Der Lebensraum wird nach und nach verkleinert und gerade in größeren Stätten gibt es meist nicht mehr die Möglichkeit für einen eigenen Garten. Immer öfter verfügen neue Wohnkomplexe auch nicht mehr über Balkone für jede Wohnung.
Steigende Immobilienpreise und Platzmangel in der Nähe von Arbeitsstätten erschweren die Möglichkeit, einen Grund mit eigenem Garten zur Selbstversorgung zu erwerben, noch weiter. Gleichzeitig waren die Preise der Lebensmittel in Supermärkten im letzten Jahrzehnt vergleichsweise niedrig und die Auswahl an Produkten größer, als man es in einem eigenen Garten je hätte schaffen können.
Durch diese Entwicklung ging auch vermehrt Interesse und traditionelles Wissen über Anbau, Pflege und Haltbarmachung von Lebensmittel verloren. Jedoch zeigen die heutigen Krisen wie Lockdowns, Lieferschwierigkeiten, die seit dem Jahr 2020 stetig steigende Inflation sowie der derzeitige Krieg in der Ukraine deutlich, dass weder Modernisierung noch Globalisierung ein Garant dafür sind, Krisen zu vermeiden.
Was wir aus der Tradition von „Siegesgärten“ lernen können
Obwohl das Anlegen von kleinen Gärten das Auftreten von großen Krisen natürlich nicht vermeiden kann, lassen sich aus der Tradition von Siegesgärten viele Lektionen für die heutige Zeit mitnehmen.
- Etwas ist besser als nichts
Verständlicherweise hat nicht jeder die Möglichkeit, autark zu leben und sich und seine Familie vollständig selbst zu versorgen. Die „Siegesgärten“ haben gezeigt, dass auch kleine Beiträge je nach eigenem Platz und Fähigkeiten eine Auswirkung haben. Frei nach dem Motto „Etwas ist besser als nichts“, sollte man sich auch mit beschränkten Möglichkeiten und wenig bis keiner Gartenerfahrung nicht entmutigen lassen. Viele Leute hatten damals auch keine Gartenerfahrung, wendeten aber gemeinsam trotzdem eine noch schlimmere Hungersnot in Kriegszeiten ab.
- Traditionen schätzen und altes Wissen nutzen
Das Anlegen der Gärten in Krisenzeiten war, obwohl zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Modernisierung noch nicht so weit fortgeschritten war wie heute, ein Schritt zurück in Richtung Tradition. Obwohl seit Beginn der Industrialisierung Fabriken anstatt Gärten und Ganztagsjobs anstatt dem Einkochen von Vorräten popularisiert wurden, entschloss man sich in der Krise auf die Vergangenheit zu blicken und altes Wissen zur Selbstversorgung zu nutzen.
Die Antwort auf die Versorgungskrise damals war nicht noch mehr Modernisierung und Importe, sondern die Rückkehr zu einer traditionelleren Lebensweise.
- Nicht in Schockstarre verharren
Jede Krise ist eine Herausforderung und kann beängstigend sein. Der Schock der damaligen Bevölkerung, zuerst mit dem Ersten und kurz darauf mit dem Zweiten Weltkrieg konfrontiert zu sein, lässt sich nur erahnen. Doch durch das Tun und Versuchen, im kleinen Rahmen einen Beitrag zu leisten, kann man die Schockstarre verlassen und lernen, Schritt für Schritt voranzugehen. Wie die „Siegesgärten“ gezeigt haben, sind die kleinen täglichen Beiträge im Endeffekt oft gar nicht so klein. Die Gärten stärkten die Moral, den Zusammenhalt in der Bevölkerung und halfen Nahrungsengpässe zu reduzieren.
- Selbst Verantwortung übernehmen, nicht auf Anweisungen warten

Das Anlegen der „Siegesgärten“ wurde damals stark propagiert und der Erfolg wurde mit viel Werbung und Ermutigung in der Bevölkerung erreicht. Als dies für das Jahr 1946 nicht mehr gemacht wurde, glaubten viele US-Bürger, es sei nicht mehr notwendig und so kam es dann landesweit doch zu Lebensmittelknappheit. Obwohl die Bürger schon Erfahrung gesammelt hatten und die Gärten für die neue Bewirtschaftung im Frühling bereit waren, nutzen viele sie nicht mehr, weil sie dazu keine Anweisungen oder Werbung mehr hörten.
Heute steigen seit dem letzten Jahr die Preise für Lebensmittel und Lebenserhaltungskosten stetig, was durch den Ukraine-Russland Konflikt und die beschlossenen Sanktionen weiter verstärkt wird.
Der Handelsexperte Aurélien Duthoit vom Kreditversicherer Allianz Trade fasste in einem Bericht zusammen, dass im Jahr 2022 mit einer Inflation im Lebensmittelbereich im Durchschnitt von einem Plus von 12,5 Prozent auszugehen sei. Dies ist eine Teuerung von ungefähr 200 bis 250 Euro pro Person pro Jahr für Lebensmittel in der EU – im Vergleich zu 2019. Laut dem Bericht werden viele Teuerungen erst Ende des Jahres sichtbar werden, da die gesteigerten Produktionskosten und Lieferkosten in den aktuellen Lebensmittelpreisen noch nicht vollständig widergespiegelt seien.
Trotz einer aktuellen Gesamtinflation in Österreich von 8 Prozent gegenüber dem Vorjahr kamen zumindest in der Öffentlichkeit scheinbar noch niemandem die „Siegesgärten“ in den Sinn – obwohl die Tradition dieser Gärten bereits nachweislich einen Beitrag leistete, vergangene Krisen zu überwinden.
Gärten – nicht nur zum Sieg über Krisen
Natürlich muss es keine Krise geben, wenn man gerne einen Garten anlegen oder sich ein Stück weit selbst versorgen möchte. Selbst Essen anzubauen oder Vorräte einzukochen ist auch ein schönes Hobby und hat noch weitere Vorteile: Man hat gesundes Essen, wenn gewünscht ohne chemische Zusätze, verbringt Zeit im Freien, verschönert sein Zuhause und man kann altes Wissen wiederbeleben. Zudem ist die Freude, etwas selbst zu machen, immer größer, als etwas selbst zu kaufen. Also, abgesehen von Krisen, können Gärten auch zum „Sieg“ über ungesundes Essen, Frischluftmangel, Traditionsverlust und schlechte Laune genutzt werden.
Je nach Platz und Lebenssituation gibt es verschiedene Möglichkeiten, einen kleinen oder großen „Siegesgarten“ anzulegen.
In Teil 2 unserer Nspirement Serie erfahren Sie, wie Sie in jeder Situation – egal ob kleine Wohnung ohne Balkon, Wohnung mit Balkon oder Haus mit Garten und von völliger Anfänger bis hin zu Fortgeschritten, mit und ohne grünem Daumen – mit einem „Siegesgarten“ für Krisen jeglicher Art beginnen können.
Vorschau Teil 2:
-„Siegesgärten“ in kleiner Wohnung ohne Balkon
-„Siegesgärten“ in Wohnung mit Balkon
-„Siegesgärten“ für Fortgeschrittene mit Garten und Gewächshaus
Weitere Quellen:
https://www.ncpedia.org/anchor/victory-gardens
https://library.si.edu/exhibition/cultivating-americas-gardens/gardening-for-the-common-good