
Seit Prinz Rupert von Bayern vor mehr als 400 Jahren fünf dieser mysteriösen Glastropfen König Charles II von England als Geschenke überreichte, waren die Hintergründe für das Verhalten der Tropfen, das mit den Kenntnissen der damaligen und heutigen Physik nicht erklärt werden konnte, ein Mysterium. Mehrere Jahrunderte später, Ende 2016, wurde eine mögliche Erklärung des Materialverhaltens formuliert, von der man mitlerweile glaubt, der Lösung des Rätsels einen großen Schritt näher gekommen zu sein.
Der Kopf der Glastropfen, die auch Bologneser Tränen oder „Prinz Rupert-Tropfen“ genannt werden, ist härter als Stahl und zerbricht, ganz anders als normales Glas, auch unter harten Hammerschlägen nicht. Beschädigt man jedoch das spitzzulaufende Ende, explodiert der Tropfen – schneller als das menschliche Auge es erfassen kann – zu Glasstaub.
Hintergründe zu den Bologneser Tränen
Bereits im Jahr 1625 tauchten Aufzeichnungen über die Herstellung der außergewöhnlichen Glastropfen auf. Im Jahr 1642 wurde ihre Erforschung hauptsächlich in Bolognia weitergeführt, was zu dem Beinamen „Bologneser Tränen“ führte.
Die Materialeigenschaft dieser Glastropfen faszinierte den Englischen Königshof, nachdem er sie als Geschenk von Prinz Rupert von Bayern erhalten hatte, dermaßen, dass die Tropfen im Jahr 1661 offiziell der Royal Society zur weiteren Erforschung übergeben wurden.
Die Herstellung ist sehr genau beschrieben und relativ einfach: flüssiges (erhitztes) Glas wird in kaltes Wasser getropft, wodurch sich die Tropfen mit dickem Kopf und lang gezogenen, spitz verlaufenden Ende spontan von selbst bilden. Jedoch konnte das Materialverhalten Jahrhunderte lang nicht erklärt werden. Dieses Mysterium brachte die Glastropfen, die sich ganz anders verhielten als man es von gewöhnlichem Glas kannte, zeitweise sogar den Spitznamen „Teufelstränen“ ein.
Neue Erkenntnisse
„Seit rund 400 Jahren sind diese Ruperts-Tropfen nun schon eine Kuriosität“, erklärt Srinivasan Chandrasekar, Professor für Wirtschaftsingenieurswesen der amerikanischen Purdue Universität, der sich selbst seit mehr als 20 Jahren mit den außergwöhnlichen Tropfen beschäftigt. „Viele berühmte Wissenschaftler und Naturphilosophen haben schon versucht, das Geheimnis dieser Glastränen zu lüften.“
Professor Chandrasekar und sein Forschungsteam veröffentlichtem im Jahr 1994 eine Studie des Explosionsvorgangs der Tropfen, der erstmals mit Hilfe einer Hochgeschwindigkeitskamera aufgenommen werden konnte. Dabei wurde erkannt, dass beim Abknipsen des dünnen Endes des Tropfens winzige Risse durch das gesamte Material rasen und sich dabei kontinuierlich mit einer Geschwindigkeit von bis zu 1,9 Kilometern pro Sekunde verzweigen – mehr als doppelt so schnell wie eine Schwarzpulverexplosion. Umgerechnet zersetzt sich ein Rupertstropfen also mit unglaublichen 6437 km/h.

Weitere erstaunliche Forschungen zeigten, dass der Kopf der kleinen Glastropfen der Belastung von umgerechnet fast 10 Tonnen pro cm2standhalten kann, ohne zu zerbrechen. Warum dies so sein könnte und ganz anders war, als man es von sonstigem Glas kannte, blieb allerdings weiterhin ein Rätsel.
Ende des Jahres 2016 stellten Forscher im Wissenschaftsjournal Applied Physics Letters eine mögliche Erklärung des ungewöhnlichen Materialverhaltens vor. Laut ihrer Theorie beruht das Mysterium der Glastropfen darauf, dass die Außenhülle schneller abkühlt als die Innenseite des Tropfens, wodurch die Oberfläche zu einer Schicht mit stark nach innen drückenenden Kräften, sogenannten Kompressionskräften, wird. Diese scheinen zu bewirken, dass die inneren Atome des Glases bei Krafteinwirkung noch fester zusammengepresst werden, wodurch sich keine Risse durch das Material bewegen können. Die Kompressionkräfte werden laut den Forschern durch die Zugkräfte im Inneren des Tropfens ausbalanciert.
Professor Chandrasekar, Co-Autor der aktuellen Studie, erklärt vereinfacht: „Diese Kräfte wirken wie eine Druckkapsel und verhindern, dass sich beim Schlag im Glas Risse ausbreiten. Dadurch wird der Kopf der Bologneser Träne so stabil wie Stahl. Durch die schnelle Abkühlung der Oberfläche bei der Herstellung wirken die äußeren Schichten quasi wie ein Druckverband.
Bei herkömmlichem Glas kann sich jeder Riss bei Beschädigung ungehindert in alle Richtungen ausbreiten, wodurch es bricht. Durch diesen „Druckverband“ werden die Risse jedoch zu den Seiten nach außen abgelenkt.
Wenn sich allerdings im dünnen zugespitzten Ende des Tropfens ein Riss bildet, breitet sich dieser parallel zur Achse des Tropfen bis nach vorne in den ansonsten stabilen Kopf aus, was den Druckverband, also die Zwischenfläche zwischen Kompressions- und Zugkäften, aufsprengt und zur explosionsartigen Freisetzug der gesamten sogenannten „mechanischen Beanspruchungsenergie“ des Tropfens führt.
Angeregt durch diese Erklärung Ende 2016 hat sich die seit 400 Jahren andauernde Forschung um die Bologneser Tropfen wieder intensiviert. An der Bestätitgung dieser Erklärung wird weiterhin gearbeitet.
Während man beim Rätsel um die mysteriösen Bologneser Tränen einen großen Schritt nach vorne gemacht hat und ein weiteres Puzzleteil der beeindruckenden Materialeigenschaften der einfachen Kombination von heißem Glas in Wasser, gefunden hat, stellen sich Forscher nun neue Fragen. Unter anderem, ob und wie man die Tropfen durch die Zugabe anderer Komponenten noch weiter verbessern kann und wofür man das besondere Material in Zukunft einsetzten könnte.
Man darf auf zukünftige Entdeckungen gespannt sein.