GEDICHT: “Legende vom Hufeisen” – Johann Wolfgang von Goethe

Horseshoe lying in the green grass with yellow flowers, good luck symbol

GEDICHT: “Legende vom Hufeisen” – Johann Wolfgang von Goethe

(Bild: iStock, 542952240/NRuedisueli)

In der Ballade “Legende vom Hufeisen” aus dem Jahre 1797 erzählt Goethe von Jesus, der als gütiger Wanderprediger mit seinen Jüngern durchs Land zieht. Auf humorvolle Art und Weise lässt uns der Dichter daran teilnehmen, wie Jesus seinem Jünger Petrus eine kleine Lektion erteilt, weil dieser zu faul ist, sich nach etwas scheinbar Wertlosem zu bücken.

Die historisch angelegte “Legende vom Hufeisen” lehrt uns, in altertümlich gehaltener Sprache und volksnahem Stil, die Wertschätzung des Unscheinbaren und Geringen.

Legende vom Hufeisen

Als noch, verkannt und sehr gering,
Unser Herr auf der Erden ging
Und viele Jünger sich zu ihm fanden,
Die sehr selten sein Wort verstanden,
Liebt er sich gar über die Maßen,
Seinen Hof zu halten auf der Straßen,
Weil unter des Himmels Angesicht
Man immer besser und freier spricht.
Er ließ sie da die höchsten Lehren
Aus seinem heiligen Munde hören;
Besonders durch Gleichnis und Exempel
Macht’ er einen jeden Markt zum Tempel.

So schlendert er in Geistes Ruh
Mit ihnen einst einem Städtchen zu,
Sah etwas blinken auf der Straß’,
Das ein zerbrochen Hufeisen was.
Er sagte zu Sankt Peter drauf:
,Heb doch einmal das Eisen auf!’
Sankt Peter war nicht aufgeräumt,
Er hatte soeben im Gehen geträumt,
So was vom Regiment der Welt,
Was einem jeden wohlgefällt:
Denn im Kopf hat das keine Schranken;
Das waren so seine liebsten Gedanken.

Nun war der Fund ihm viel zu klein,
Hätte müssen Kron und Zepter sein;
Aber wie sollt er seinen Rücken
Nach einem halben Hufeisen bücken?
Er also sich zur Seite kehrt
Und tut, als hätte er’s nicht gehört.

Der Herr, nach seiner Langmut, drauf
Hebt selber das Hufeisen auf
Und tut auch weiter nicht dergleichen.
Als sie nun bald die Stadt erreichen,
Geht er vor eines Schmiedes Tür,
Nimmt von dem Mann drei Pfennig dafür.
Und als sie über den Markt nun gehen,
Sieht er daselbst schöne Kirschen stehen,
Kauft ihrer so wenig oder so viel,
Als man für einen Dreier geben will,
Die er sodann nach seiner Art
Ruhig im Ärmel aufbewahrt.

Nun ging’s zum andern Tor hinaus,
Durch Wies und Felder ohne Haus,
Auch war der Weg von Bäumen bloß;
Die Sonne schien, die Hitz war groß,
So daß man viel an solcher Stätt
Für einen Trunk Wasser gegeben hätt.
Der Herr geht immer voraus vor allen,
Läßt unversehens eine Kirsche fallen.
Sankt Peter war gleich dahinter her,
Als wenn es ein goldener Apfel wär;
Das Beerlein schmeckte seinem Gaum.

Der Herr, nach einem kleinen Raum,
Ein ander Kirschlein zur Erde schickt,
Wonach Sankt Peter schnell sich bückt.
So läßt der Herr ihn seinen Rücken
Gar vielmal nach den Kirschen bücken.
Das dauert eine ganze Zeit.
Dann sprach der Herr mit Heiterkeit:
“Tätst du zur rechten Zeit dich regen,
Hättst du’s bequemer haben mögen.
Wer geringe Dinge wenig acht’t,
Sich um geringere Mühe macht.”

(Johann Wolfgang von Goethe)

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